Opern für heute – ein Positionspapier zu meiner Musik:
1.Ich will neue Geschichten erzählen, die von heute erzählen und doch die Tradition alter Opern wieder aufgreifen, denn ihr Erzählmodell lässt sich durch moderne Erzähltechniken erneuern.
2.Meine Musiksprache ist bewusst tonal und trotzdem modern.
3.Die Tonalität erlaubt situationsbezogene Erweiterungen in die Bi- und Atonalität und damit auch ein grösseres Spektrum an Gefühlen als die Atonalität. Vor allem aber erlaubt sie auch, von der Liebe zu erzählen. Das ist beachtenswert, denn grosse Liebesarien sind seit Puccini kaum noch entstanden.
4.Ich schreibe singbare Melodien. Die eigentliche Verwerfung in der Musikgeschichte ist nicht die Entwicklung der Zwölftonmusik, sondern der Verzicht auf die Melodie. Abgesehen von Ausnahmen wie der seriellen Musik hat die zeitgenössische Musik die Melodie weitgehend der Pop- und Filmmusik und dem Musical überlassen. Aber gute Melodien zu schreiben ist schwierig, und nicht alles Tonale ist a priori gut.
5.Ein eigenständiger Stil ist im Tonalen auch heute möglich und wichtig. Deshalb zitiere ich andere Stilarten nur, wenn eine Szene dies erfordert. Eigenständigkeit ist mein oberstes Ziel.
6.Eine klare und einfache Musiksprache ist hohe Kunst. Trotz konzeptueller Strenge entsteht beim Abarbeiten von Tonreihen und Anhäufen von Klangeffekten aber oft ein chaotisches Hörerlebnis. Denn die graphische Komplexität einer Partitur zeigt eine Klarheit, die die gespielte Musik oft nicht widergibt. Musik ist aber nicht Papier, sondern Klang. Strawinsky, Prokofjew, Gershwin aber auch John Adams sind mir da Vorbilder. Deshalb muss man sich mit den Möglichkeiten und Grenzen menschlicher Rezeptionsfähigkeit auseinandersetzen und mit der Frage nach hörbarer Klarheit.
7.Klarheit meint nicht Simplizität, denn Klarheit schliesst Komplexität nicht aus.
8.Ich trage grossen Gefühlen Rechnung, denn Musik ist Gefühl, und ohne grosse Gefühle ist jede Oper langweilig. Musikalische Strukturen, Konzepte und Formen sind deshalb nur Mittel zum Zweck und nicht Qualitätsmerkmale an sich.
9.Ich möchte bei der Tradition anknüpfen, um neue Wege zu gehen. Verdis Votum – auch wenn es in einem anderen Zusammenhang steht – war für mich immer bedenkenswert: «Ritorniamo all’antico è sarà un progresso.» (Machen wir einen Schritt zurück, und es wird ein Fortschritt sein.)
10. Eine neue Tradition ist möglich.
Tullio Zanovello 2020